Wolf
Ein künstlerisches Forschungsprojekt

In meinem künstlerischen Schaffen beschäftige ich mich seit 1999 vorwiegend mit dem Medium Video. So begann damals für mich die Auseinandersetzung mit dem Medium Video an sich und mit Fragen der Wahrnehmung und der Sprache. Auch waren in den letzten Jahren die Themen Kunst und Wissenschaft/Hirnforschung in meinem Schaffen von zentraler Bedeutung. Mich interessieren folgende Fragen: Wie entsteht Wahrnehmung? Welche neuen Erkenntnisse ergeben sich, wenn künstlerisch-visuelle Sichtweise und neuste technische Entwicklungen der Wissenschaften zusammengeführt werden?

Mit der Arbeit Wolf gelang es mir über die Naturwissenschaft, mit dem Raubtier Wolf eine Art inhaltlich-visuelle Grundlagenforschung mit dieser Webseite zu erarbeiten und zugleich eine neue Videoarbeit zu präsentieren. Erfahrungen und Erkenntnisse zeigen sich auf mehreren Ebenen.



Zur Themenfindung


Bei der Themenfindung war es mir wichtig, dass es ein Thema ist, dass mich genug fesselt, um über längere Zeit dran bleiben zu können und wollen. Es muss in der Substanz um existentielle, gesellschaftliche, ökologische und universelle Inhalte gehen und somit einen Bezug zur Gegenwart, zum Leben (Pflanze/Tier/Mensch) haben.

Nach circulaziun (2009), meiner letzten Videoarbeit mit Bienen, fand ich diese übergeordneten Themen im Wolf wieder. Im Unterschied zum hundeähnlichen Raub- und Säugetier Wolf sind die summenden Insekten ein dankbareres Motiv für eine Videoarbeit. Sie ermöglichen einen einfacheren Zugang zur Abstraktion.

Beim Wolf interessierte es mich, mich mit dem realen, wahren Bild und Abbild von ihm zu beschäftigen. Dem bin ich über den Bereich der Naturwissenschaft nachgegangen. Dabei habe ich viel über dieses faszinierende Tier erfahren. Es ist ein Anfang an Erfahrung und Wissen über dieses Tier, das mich bestimmt über diese Arbeit hinaus beschäftigen wird.

Ich habe dabei die Haltung, dass es in einer Zeit der Beliebigkeit immer wichtiger wird, darauf zu achten, was ins Leben gerufen wird, welche Bilder und Gedanken/Ideen. In einer Welt, in der eine Überflutung an Bildern herrscht und ein Gedanke sofort mit einem inneren Bild verbunden ist, wird der zugrunde liegende Gedanke, die Idee und somit das verbundene Bild als Ausgangsbasis immer wichtiger. Dazu zählt für mich, sich auf das Wesentliche, auf das, was über das Persönliche hinausgeht, zu konzentrieren.



Zum Arbeits- und Erkenntnisprozess


Der Prozess der Untersuchung verlief über den Bildtyp Fotofallen zu den Infrarot-Videoaufnahmen. Beim Fotofallen-Bild war das Herausfinden, was genau ein wissenschaftliches und was ein künstlerisches Bild ist, entscheidend. Bald war klar, dass ich mit den klassischen Kategorien aus den visuellen Künsten, schön/unschön, gut/nicht gut oder stimmig/nicht stimmig für die Bewertung eines Bildes nicht weit kommen werde. Was heisst das? Was macht ein „gutes“ Bild aus? Weshalb wähle ich dieses Bild und nicht jenes? Wie gehe ich mit diesen Bildern um? Was ist im Gegensatz dazu ein schlüssiges/nicht schlüssiges, wahres/falsches oder informatives/nicht informatives Bild? Alles Fragen, die mich beschäftigten.

Nachdem ich meine Tendenz, in das Fotofallen-Bild einzugreifen (zum Beispiel mit einer Ausschnittsveränderung) überwunden hatte, war der Weg frei, um meinem ursprünglichen Ziel, den künstlerischen und forschenden Blick zusammenzubringen, näher zu kommen. Ich wollte und konnte dem wissenschaftlichen Anliegen, das Bildmaterial nicht zu verändern, gerecht werden. Denn mit jeder vorgenommenen Veränderung nehme ich auch Bezug auf das Bild, beziehe also Stellung und führe das Bild somit in einen neuen Kontext. Jeder Eingriff ist zugleich ein Ausblenden (von Tatsachen), ein Kommentar zu etwas und weicht ab von der wissenschaftlichen Haltung. Die wissenschaftliche Haltung nimmt alle Faktoren an, wie sie sind, sie nimmt sie als gleichwertig, prüft und wertet sie aus, auch Faktoren, die über die Bilder hinausgehen. (Zum Beispiel genetische Proben von Kotmarkierungen oder von einem Tierriss, die mit den Erkenntnissen aus dem Fotofallenbild kombiniert werden.)

Von da an nahm ich das wissenschaftliche Bild so an, wie es ist, mit allen seinen spezifischen Fotofallen-Informationen, und begann mit seinen sequenzartigen Faktoren zu arbeiten. Dieses Nichteingreifen ging sogar soweit, dass ich bei den Infrarot-Videoaufnahmen anfangs gehemmt war, die Sequenzen über Montage zu bearbeiten. So habe ich zuerst (obwohl störend) den Markennamen “Sagem“ der Wärmebildkamera, der oben links im schwarzen Umraum des Bildes steht, nicht entfernt.

Das gleiche Verfahren von Gegenüberstellen von zwei Bildern, das in der Kunstgeschichte angewandt wird, um zwei Bilder miteinander zu vergleichen und die Unterschiede herauszuarbeiten, habe ich bei meiner Videoarbeit Wolf angewandt. Das Gegenüber- und Nebeneinanderstellen zweier (oder mehrerer) Bilder ermöglicht in der Kunst und Wissenschaft das Vergleichen – wobei die Zielsetzung unterschiedlich ist. Bei der visuellen Kunst kann durch die freie Auswahl der Motive und das Zusammenführen von Bildern eine Poetisierung stattfinden, in der der Betrachter, die Betrachterin in eine andere Wirklichkeit versetzt wird. In der Wissenschaft sollen Motive und Kombinationen für nachweisbare Tatsachen stehen. Eine Erkenntnis, die für die Kunst (und Kunstgeschichte) nicht neu ist, aber für mich persönlich eine bemerkenswerte Erfahrung ist, weil ich diese Vorgehensweisen neu mittels der Sprache benennen und anders verstehen kann.

Das Arbeiten mit Bildern ist das eine, Überlegungen in Sprache fassen das andere. Der Prozess der Verbalisierung und der Begrifffindung war wichtig und herausfordernd. Es war spannend zu erfahren, wie sich das Undeutliche, schwer Fassbare mit Durchhaltevermögen und Geduld doch in Worte fassen lässt. Bestimmt hätte ich mehr Zeit brauchen können, um meine schriftliche Analyse noch zu vertiefen. Deshalb ist für mich diese Webseite ein Anfang und ein Experiment, das ich nach Bedarf fortsetzen kann.



Zur formalen und inhaltlichen Präsentation


Der Entscheid, mein Forschungsprojekt in Form einer Webseite zu präsentieren, war eine zusätzliche Herausforderung. Er konfrontierte mich mit viel Arbeit an neuen gestalterischen, inhaltlichen und technischen Fragen, die in relativ kurzer Zeit von drei Monaten zu lösen waren. Da eine Webseite aber ermöglicht, meine Arbeit einer breiten Öffentlichkeit – und eben auch allen, die sich mit dem Wolf auseinandersetzen und das Projekt mit Materialien und Erfahrungsaustausch unterstützt haben – zugänglich zu machen, habe ich mich für diesen Weg entschieden.



Zur Recherchearbeit


Ich habe mein Untersuchungsfeld sehr weiträumig in die Bereiche Ethologie, Biologie, Faunaschutz, Genetik, Herdenschutz, Jagdwesen, Politik und Wildtierpathologie angelegt, motiviert durch das Thema Wolf und meine Absicht, eine Videoarbeit zum Wolf zu kreieren. Dabei war mir bewusst, wie einschränkend das Motiv des Wolfes sein kann, wenn es mit klassischen, dokumentarischen Videoaufnahmen von Wölfen künstlerisch angegangen wird. Ich habe mich deshalb breit ins Thema vertieft, immer auf der Suche nach neuen, anderen Zugängen zum Wolf.

Ich war viel unterwegs, informierte mich über mehrere Kanäle, traf unterschiedliche Leute mit unterschiedlichen Ansätzen und Haltungen, die sich mit dem Raubtier Wolf beruflich beschäftigen. Aus diesen bereichernden Erfahrungen und Kontakten setzen sich meine Begegnungsprotokolle zusammen. Dabei habe ich mich dagegen entschieden, einen Wolfstrainer oder eine Wolfstrainerin zu treffen, obwohl ich sie anfänglich auf meiner Begegnungsliste aufgeführt habe. Letztendlich motivierte mich das frei lebende, wilde Tier mehr. Es war ein längerer Prozess des Einkreisens, des Suchens und Findens, des Auswählens und Einschränkens.

Auf meiner Suche blieb ich stets offen, jederzeit bereit, mich in eine andere Richtung begeben zu können, wenn es nicht mehr weiter geht oder mich nicht mehr interessiert. Dabei war die Kommunikation mit den Menschen von zentraler Bedeutung, ihre Bereitschaft, mit dieser „planlosen” Offenheit umzugehen, schätze ich sehr.

Dabei bin ich aber auch an Ideen gescheitert, in dem ich mich zum Beispiel von geeignetem Material trennen musste, weil ich die Bildrechte dafür nicht erhalten habe. Das war eine unbequeme Erfahrung. Sie brachte mich aber auch dazu, dass ich mich auf das besann, was ich bereits hatte und mich wieder auf die Suche nach neuem Material begab.

Die Recherchearbeit, des Suchen und Finden der spezifischen Themen, des Bildmaterials für die Videoarbeit sowie der Webseite war im Verhältnis zur eigentlichen Denk- und Schreibarbeit bedeutend zeitintensiver. Dieser grössere Zeitaufwand muss aber sein, da er zugleich auch einen Prozess darstellt, in der eine Konzentration und Vertiefung in das Thema stattfinden kann.

Beim Auswählen aus dieser Fülle an Fotofallenbild-Materialien war es mir stets wichtig, dass die in Beziehung gesetzten Bilder von Wölfen korrekt angewandt werden. Ein Beispiel dafür ist der Wolf M16, der 2007 in Anzeindaz von Jean-Claude Roch und 2008 in Latterbach von KORA bei einem Luchs Monitoring aufgenommen wurde. Siehe dazu Anzeindaz, 2007 / Latterbach, 2008 (M16). Bei einem weiteren Beispiel, Sörenberg / Giswil 2011, habe ich meine Informationen aus der Presse bezogen. Darin wird die Vermutung geäussert, dass es möglicherweise ein und derselbe Wolf ist. Gerne hätte ich zu den aufgenommen Wölfen in Luzern und Obwalden noch mehr erfahren. Denn bei denen vermute ich, dass sie teilweise ein und derselbe sind. Diese Abklärungen sind noch offen.

Durch den Erhalt der einzigartigen Nachtvideoaufnehmen vom Nationalpark Mercantour auf der Alpage du Longon im Jahr 2000 bin ich einen bedeutenden Schritt in meiner Recherchearbeit weitergekommen. Dieses Entgegenkommen und Vertrauen seitens des Nationalparks schätze ich sehr. Dadurch bekam ich die Möglichkeit mich mit dem Medium Video auseinanderzusetzen und ich konnte gleichzeitig mein Bedürfnis nach Abstraktion stillen. Durch meine Videoarbeit versetze ich Bildmaterial aus einem wissenschaftlichen Kontext in einen Kunstkontext.



Fazit


Das eigentliche Fazit dieses künstlerischen Forschungsprojekts ist meine Videoarbeit Wolf , während diese Webseite den Hintergrund zur Entstehung dokumentiert und einen vertieften Blick auf die Videoarbeit, mein Denken und Forschungsinteresse wirft.


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